„Tafsîr“ bedeutet Auslegung, Exegese. Es ist ein Verkünden und ein Erklären. „Ta’wîl“ bedeutet, auf etwas zurückzugreifen. Tafsir ist Sinndeutung und Ta’wîl ist, eine von verschiedenen Bedeutungen auszuwählen. Es ist nicht dschâiz, auf der Grundlage persönlicher Meinung Tafsir zu machen. Tafsir wird auf der Grundlage von Riwâya (Überlieferung) gemacht. Ta’wîl wird auf der Grundlage von Dirâya (Verständnisfähigkeit) gemacht.
In einem ehrwürdigen Hadith heißt es sinngemäß:
„Wer den edlen Koran nach seiner persönlichen Meinung interpretiert, begeht einen Fehler, selbst wenn er richtigliegt.“
Es ist nicht richtig, eine Auslegung als die Bedeutung der Worte Allahs, des Erhabenen, zu präsentieren, ohne dabei die vom Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, und die von den edlen Gefährten, möge Allah mit ihnen zufrieden sein, überlieferten Nachrichten zu betrachten, ohne auf die Tafsire von Gelehrten und auf die Tafsir-Methodologie zu schauen, ohne die Sprache der Quraisch zu kennen, ohne Tatsächlichkeit (Haqîqa) und Metapher (Madschâz) zu bedenken, ohne einen Unterschied zwischen dem Zusammengefassten (Mudschmal) und dem Ausführlichen (Mufassal) und zwischen dem Allgemeinen (Umûmî) und dem Spezifischen (Khusûsî) zu machen, ohne die Offenbarungsanlässe (As- bâb an-Nuzûl) der Verse zu kennen und ohne zu untersuchen, ob ihre Urteile aufgehoben, abrogiert (mansûkh) oder aufhebend, abrogierend (nâsikh) sind.
„Tafsîr“ bedeutet, die göttliche Absicht/Intention (Murâd ilâhî) anhand der göttlichen Worte (Kalâm ilâhî) zu verstehen. Eine Bedeutung aufgrund persönlicher Meinung zu geben, ist ein Fehler, da diese Auslegung nicht auf legitime Art geschieht, selbst wenn diese Bedeutung richtig sein sollte. Ist auch die Auslegung falsch, wird derjenige dadurch zum Kâfir. Es ist auch eine Sünde, ehrwürdige Hadithe vorzutragen, ohne zu wissen, ob diese authentisch (sahîh) oder falsch sind, selbst dann, wenn ein authentischer vorgetragen wird. Es ist nicht dschâiz, dass so jemand ehrwürdige Hadithe vorträgt. Um Hadithe aus den Hadith-Büchern zu überliefern, braucht es eine Autorisierung, eine Idschâza von Hadith-Gelehrten.
In einem ehrwürdigen Hadith heißt es sinngemäß:
„Wer ein erdachtes Wort als Hadith verbreitet, wird dafür in der Hölle leiden.“
Es ist dschâiz, den edlen Koran von Tafsir-Gelehrten direkt und wer keine solche Autorisierung besitzt, aus Tafsir-Büchern wörtlich und schriftlich zu überliefern. Es ist dschâiz, dass jemand, der die oben genannten Bedingungen für die Auslegung erfüllt, auch ohne eine schriftliche Autorisierung dafür, Tafsir und ehrwürdige Hadithe überliefert. Es ist nicht dschâiz, Geld zu verlangen, um eine solche Autorisierung zu geben. Es ist wâdschib, demjenigen, der die entsprechenden Qualitäten besitzt, eine Autorisierung zu geben. Es ist harâm, jemandem, der die entsprechenden Qualitäten nicht besitzt, eine Autorisierung zu geben.
In einem ehrwürdigen Hadith heißt es sinngemäß:
„Wer den edlen Koran interpretiert, ohne dafür qualifiziert zu sein, wird in der Hölle dafür leiden.“
Und sinngemäß:
„Wer als Hadith ausgibt, worüber er keine genaue Kenntnis besitzt, wird dafür in der Hölle leiden.“
Und sinngemäß:
„Wer den edlen Koran auf der Grundlage seiner eigenen Meinung interpretiert, wird dafür in der Hölle leiden.“
So verhält es sich mit Irrgängern (Ahl al-Bid’a), die, um ihre falschen Glaubensweisen zu belegen, edle Verse und ehrwür- dige Hadithe vortragen. [Die Schiiten, die Wahhabiten, die Dschamâ’at at-Tablîgh und die Anhänger von Mawdûdî und Sayyid Qutb verfahren so. Yûsuf an Nabhânî, möge Allah mit ihm barm- herzig sein, berichtet ausführlich in seinem Buch „Schawâhid al-Haqq“ über diese Art von falschem Tafsir. Dazu zählen auch die [Ketzer (Zindîq)], die nach ihrer persönlichen Meinung Tafsir machen, indem sie sagen, dass der edle Koran so, wie er eine klare, äußerliche Bedeutung habe, auch eine innere, verborgene Bedeutung habe. Genauso verhält es sich mit denjenigen, die Tafsir machen, indem sie den Wörtern die Bedeutungen geben, die sie zu ihrer eigenen Zeit unter sich selbst haben.
Nûh ibn Mustafâ al-Konawî, möge Allah mit ihm barmherzig sein, einer der Gelehrten im Osmanischen Reich, verstarb im Jahre 1070 n. H. (1660 n. Chr.) in Kairo. In seiner Übersetzung des Buches „Al-Milal wan-Nihal“ von Muhammad Schihristânî, möge Allah mit ihm barmherzig sein, schreibt er:
„Die Gruppe der ‚Is- mâ’îliyya‘ hat diesen Namen, weil sie behauptet, dem ältesten Sohn des Imâm Dscha’far as-Sâdiq, der Ismâ’îl heißt, zu folgen. Diese Gruppe wird auch ‚Bâtiniyya‘ genannt. Denn sie sagen: ‚So, wie der edle Koran eine klare, äußere (zâhir) Bedeutung hat, hat er auch eine innere, verborgene (bâtin) Bedeutung. Die äußere Bedeutung ist das, was die Fiqh-Gelehrten genormt haben, und diese Sachen sind bekannt und begrenzt. Die verborgene Bedeu- tung des edlen Korans ist seine innere Bedeutung und dies ist ein Meer ohne Grenzen.‘ Sie legten die äußere Bedeutung beiseite und glaubten an das, was sie sich ausdachten und verborgene Be- deutung nannten. Dabei hatte unser Prophet, möge Allah ihn seg- nen und ihm Frieden schenken, die äußere, klare, offensichtliche Bedeutung des edlen Korans kundgetan. Es ist Kufr, die äußere, klare Bedeutung abzulehnen und eine verborgene Bedeutung zu erfinden. Dies ist das Vorgehen der Ketzer. Mit dieser List haben sie versucht, den Islam zu zerstören. Es war Hamdan Qarmat, das Haupt der Zoroastrier, d.h. der Feueranbeter, der in deren Bestre- ben, die Verbreitung des Islam zu verhindern, diese Abspaltung erdachte und das Reich der Qarâmita gründete. Er verübte Mas- saker an Pilgerreisenden und raubte den Schwarzen Stein (Ha- dschar al-aswad) aus der Kaaba und brachte ihn nach Basra. Sie sagten: ‚Das Paradies sind weltliche Freuden und die Hölle ist die Befolgung der Urteile im Islam.‘ Die Mahârim nannten sie schöne Künste. Die Untugenden, die im Islam als schlechte Gewohnheit und Unzüchtigkeit bezeichnet werden, präsentierten sie als Ethik und verleiteten damit viele junge Menschen zum Elend. Ihr Reich hat dem Islam sehr geschadet. 372 n. H. (983 n. Chr.) traf sie der göttliche Zorn und sie gingen unter.“]
Tafsir muss durch Riwâya (Überlieferung) gemacht werden. Um Tafsir machen zu können, müssen folgende fünfzehn Wissenschaften beherrscht werden: Lugha (Wissenschaft der arabischen Sprache und ihrer Dialekte); Nahw (Satzbau); Sarf (Formenlehre, Morphologie); Ischtiqâq (Etymologie); Ma’ânî (Bedutungswissenschaft, Semantik); Bayân (Ausdruck); Badî’ (Rhetorik); Qirâ’a (Rezitation); Usûl ad-Dîn (Grundlagen der Religion; Wissen bezüglich des Glaubens); Fiqh (Rechtswissenschaft); Asbâb an-Nuzûl (Anlässe der Herabsendung der verschiedenen Verse und Versgruppen); Nâsikh (Verse, deren Urteile die Urteile anderer Verse aufheben) und Mansûkh (Verse, deren Urteile aufgeho- ben sind); Usûl al-Fiqh (Rechtsmethodologie); Hadith (Wissenschaft der Überlieferungen der Worte und Taten des Propheten, Friede sei mit ihm); Ilm al-Qalb (Wissenschaft des Herzens). Es ist nicht dschâiz, dass jemand, der diese Wissenschaften nicht be- herrscht, Tafsir macht. Das Wissen, das Allah, der Erhabene, ohne Mittel und Mittler den Gelehrten mit râsikh (unerschütterlich) genanntem Wissen, die sich an die Urteile des Islam halten, beschert, wird „Mawhiba“ oder „Wissen des Herzens“ genannt. In einem ehrwürdigen Hadith heißt es sinngemäß: „Wer seinem Wissen ent- sprechend handelt, den wird Allah, der Erhabene, lehren, was er nicht weiß.“ Es ist nicht dschâiz, dass jemand, der die oben genannten fünfzehn Wissenschaften nicht beherrscht, Tafsir macht. Tut er es doch, so tut er es nur auf Grundlage seiner persönlichen Meinung. Er verdient damit das Leiden in der Hölle. In einem ehr- würdigen Hadith heißt es sinngemäß: „Das Herz der Person, die vierzig Tage mit Ikhlâs den Islam befolgt, wird Allah mit Weisheit füllen und sie tut diese kund.“ Wer die Mutaschâbihât (Verse mit verschlossenen Bedeutungen) interpretiert, macht damit Tafsir nach seiner persönlichen Meinung. Die Auslegungen der Irrgän- ger (Ahl al-Bid’a) sind dieser Art.
Das Wissen, das im edlen Koran verwahrt ist, ist dreierlei: ein Teil hat Allah, der Erhabene, keinem Seiner Diener offengelegt. Die Wahrheit Seines Wesens und Seiner Eigenschaften und die Vorankündigung des Verborgenen (Ghayb) sind dieser Art. Der zweite Teil sind Geheimnisse, die Er Seinem Propheten mitgeteilt hat. Der Gesandte Allahs, Friede sei mit ihm, teilt diese mit denen, für die Allah, der Erhabene, Erlaubnis gegeben hat. Der dritte Teil ist Wissen, das Er Seinem Propheten, Friede sei mit ihm, mitgeteilt hat und ihm angeordnet hat, dieses Wissen seiner Gemeinschaft (Umma) kundzutun. Diese dritte Art des Wissens ist wie- derum zweigeteilt: der erste Teil wird nur durch Hören erlernt, so z.B. die Zustände vor dem Letzten Tag. Der zweite Teil wird da- durch erlernt, dass man bezeugt und untersucht und, dass man durch Studium die Bedeutungen versteht. Das Wissen vom Islam und Iman ist dieser Art. Sogar die Mudschtahids haben das Wissen vom Islam, das in den Quellentexten (Nusûs; edler Koran und ehr- würdige Hadithe) nicht eindeutig erläutert wurde, nicht absolut verstehen können und vertreten diesbezüglich unterschiedliche Standpunkte. So haben sich die verschiedenen Rechtsschulen im Bereich der Handlungen ergeben. Die Auslegung, die jemand macht, der die oben genannten fünfzehn Wissenschaften besitzt, wird nicht „Tafsir“ genannt, sondern „Ta’wîl“. Denn diese Auslegungen enthalten auch seine persönliche Auffassung (Ra’y). D.h., dass er in der Auswahl von einer unter verschiedenen Bedeutungen, die er versteht, seinem eigenen Vorzug folgt. Passt jedoch die Bedeutung, die er wählt, nicht mit den äußeren, klaren und offen- sichtlichen Bedeutungen der edlen Verse und der ehrwürdigen Hadithe oder mit dem Konsens (Idschma) zusammen, ist sie nichtig. Zum Ende des Buches „Barîqa“ in der Erklärung des Verbotenseins des Tanzes wird gesagt:
„Uns wurde nicht angeordnet, unsere Handlungen nach den Tafsir-Büchern auszurichten. Uns wurde angeordnet, den Fiqh-Büchern zu folgen.“