DER BRIEF DES SCHARAFUDDÎN MUNÎRÎ,

möge Allah mit ihm barmherzig sein.

(Über die Notwendigkeit, sich entlang den Gründen und Ursachen zu bewegen)

Einer der größten Gelehrten des Islam, die Indien hervorgebracht hat, Scharafuddîn Ahmed ibn Yahyâ Munirî, möge Allah mit ihm barmherzig sein, sagt in seinem auf Persisch verfassten Buch „Maktûbât“, „Briefe“, im 18. Brief:

„Die meisten Menschen irren sich, weil sie aufgrund von Zweifeln und Illusionen handeln. Einige derer, die solcherart wirr denken, sagen: ‚Allah, der Erhabene, ist nicht auf unsere Anbetung angewiesen. Unsere Anbetungen nützen Ihm nichts. Vor Seiner Gewaltigkeit sind der Gehorsam und der Ungehorsam der Menschen gleich. Diejenigen, die die Anbetungen verrichten, erdulden Schwierigkeiten und Mühsal völlig umsonst.‘ So zu denken ist falsch. Sie sagen diese Sachen, weil sie den Islam nicht kennen. Sie denken, dass die Anbetungen Allah, dem Erhabenen, irgendwie nützten und dass Er diese aus diesem Grund gebietet. So zu glauben ist völlig falsch. Es bedeutet, die Annahme von etwas (als Grundlage des Denkens), das nicht der Fall sein kann. Die Anbetung eines jeden Menschen nutzt nur ihm selbst. Dies verkündet Allah, der Erhabene, in der 18. Âya der Sûre Fâtir, ‚Der Erschaffene‘, klar und deutlich. Jemand, der so irrig denkt, könnte mit jemandem verglichen werden, der sich weigert, eine Diät zu machen, obwohl ein Arzt ihm diese Diät empfohlen hat. Er weigert sich aufgrund des Gedankengangs, dass seine Diät dem Arzt nichts nützen wird, und unterlässt die Diät. Dass es dem Arzt nichts nützt, stimmt schon, doch er schadet hier sich selbst. Der Arzt empfahl ihm die Diät nicht, weil diese ihm selbst nützen würde, sondern damit der Patient von seiner Krankheit geheilt werde. Wenn er der Empfehlung des Arztes folgt, wird er Heilung finden, wenn nicht, könnte er sogar sterben. Nichts davon würde dem Arzt Schaden zufügen.

Einige dieser verwirrten Gruppen verrichten gar keine Anbetungen, hüten sich vor den Verboten nicht und befolgen die Anweisungen im Islam nicht. ‚Allah ist großzügig, erbarmend, und fürsorglich mit Seinen Dienern. Seine Vergebung ist ohne Grenzen. Er wird niemandem Leid zufügen‘, sind ihre Aussagen hierzu. Ja, ihre Worte sind wohl wahr, bis auf die letzte Aussage. Da werden sie vom Teufel getäuscht und zur Auflehnung verleitet. Wer bei Verstand ist, lässt sich vom Teufel nicht täuschen. So wie Allah, der Erhabene, großzügig und verzeihend ist, ist Er auch gleichermaßen hart strafend und Leid zufügend. Wir beobachten, dass viele Menschen in dieser Welt an Armut leiden und viele Sorgen durchmachen. So manchen Seiner Diener lässt Er, ohne davor zurückzuschrecken, leiden. Obwohl Er großzügig und versorgend ist, lässt Er ihnen nicht einen einzigen Bissen zukommen, ohne dass sie z. B. Die Mühsal des Ackerbaus und der Tierhaltung erdulden. Obwohl es Er ist, der jeden am Leben hält, lässt Er die, die nicht essen oder trinken, nicht überleben. Dem Kranken, der keine Medizin einnimmt, lässt Er keine Heilung zukommen. Für alle Gaben in dieser Welt wie Leben, Gesundheit und Besitzerwerb hat Er Gründe und Ursachen erschaffen und hat kein Mitleid mit jenen, die sich nicht entlang diesen Gründen bewegen, und belässt sie ohne diese Gaben und Segen dieser Welt.

Medizin ist zweierlei Art, materielle und spirituelle Medizin. Die spirituelle Medizin für alle Krankheiten ist das Geben von Sadaqa (Almosen), und das Bittgebet. ‚Gebt Almosen, um eure Kranken zu heilen“ und ‚Viel Bitte um Istighfâr (Vergebung) ist eine Medizin für alle Leiden‘ sind berühmte ehrwürdige Hadîthe.

Materielle Medizin gibt es in vielen Formen. Diese erweisen ihre Heilkraft durch Erfahrung. Die Anwendung spiritueller Medizin hilft auch beim Finden der richtigen materiellen Medizin. So verhält es sich ebenso bei der Erlangung der Gaben und Segen im Jenseits. Der Zustand des Unglaubens ist ein Gift, das Herz und Seele absterben lässt. Faulheit lässt die Seele erkranken. Wenn man keine Medizin gegen diese Krankheiten anwendet, erkrankt die Seele und stirbt ab. Die einzige Medizin für Unglauben und Ignoranz ist das Wissen und die Gotteserkenntnis. Die Medizin für die Faulheit ist die Verrichtung des Gebets und der anderen Anbetungen. Wenn jemand in der diesseitigen Welt Gift schluckt und dann sagt, ‚Allah ist erbarmend, Er wird mich vor dem Schaden des Giftes schützen‘, dann wird er trotzdem erkranken und kann sogar sterben. Wenn jemand, der Durchfall hat, indisches Öl einnimmt [oder ein Zuckerkranker Süß- oder Teigwaren isst], dann wird sich seine Beschwerde steigern. Da die Körper der Menschen empfindlich sind, bedürfen sie vieler Sachen [wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft]. Es ist sehr schwer, diese Sachen zu erlangen und sie zur Nutzung gemäß den Vorschriften des Islam vorzubereiten. Damit dies leicht und bequem geschehen kann, wurde im Menschen jene zusätzliche Kraft erschaffen, die Nafs (die Triebseele) genannt wird. Bei den Tieren gibt es keinen Grund für die Erschaffung einer solchen Kraft. Die Triebseele wünscht die Verrichtung der Sachen, die für den Körper notwendig sind. Die Triebseele findet Gefallen daran, diese Sachen im Übermaß zu verrichten. Die Wünsche der Triebseele werden Schachwa (Begehren) genannt. Die Befolgung der Schachwa, ohne den Verstand zu konsultieren und dabei über das notwendige Maß hinauszugehen, schadet dem Herzen und dem Körper sowie anderen Menschen, und führt sodann dazu, zu einer Sünde zu werden. [Siehe dazu z. B. In dem Buch ‚Das ewige Glück‘, ‚Se‘âdet-i Ebediyye‘, Seite 32.]

Einige unter solchen verwirrten Gruppen unterwerfen sich dem Hunger und der Riyâda (Abstinenz). Sie versuchen auf diese Weise die Schachwa (Begehren), die im Islam verpönt sind, wie Zorn und Vergnügungslust, von der Wurzel her zu tilgen. Sie glauben, dass der Islam die Tilgung dieser Begehren verordnet. Dann, nach einer langen Weile des Hungerleidens bemerken sie, dass solche schlechten Begehren nicht verschwinden, und kommen zu dem Schluss, dass im Islam Sachen angeordnet seien, deren Erfüllung unmöglich ist. Sodann behaupten sie: ‚Diese Anordnung des Islam ist nicht durchführbar. Der Mensch kann sich der Eigenschaften seines Wesens nicht entledigen. Dies zu versuchen, käme der Mühe gleich, einen Menschen mit schwarzer Haut in einen Menschen mit weißer Haut umzuwandeln. Sachen zu versuchen die unmöglich sind, bedeutet sein Leben zu verschwenden.‘ Solche Leute denken falsch und handeln falsch. Dass sie zudem noch behaupten, im Islam sei dies so angeordnet, ist Unwissenheit und Schwachsinn. Denn im Islam wird nicht angeordnet, dass menschliche Eigenschaften wie Zorn und Begehren ausgelöscht werden. Dies zu behaupten ist eine Unterstellung. Wäre so etwas eine Anordnung im Islam, dann hätte der Verkünder des Islam, Muhammed, Friede sei mit ihm, diese Eigenschaften nicht. Dabei hat er gesagt: ‚Ich bin ein Mensch. Wie jeder Mensch werde auch ich zornig.‘ In der Tat wurde er gelegentlich zornig. Doch sein Zorn war stets um Allahs, des Erhabenen, Willen. Allah, der Erhabene, lobt im edlen Qur‘ân, in der 134. Âya der Sûre Âli Imrân, ‚Die Familie Imrâns‘, ‚jene, die ihren Zorn besiegen‘. Diejenigen, die Er lobt, sind nicht als ‚jene, die nicht zürnen‘, beschrieben. Dass der Verwirrte sagt, der Mensch müsse sein sexuelles Begehren gänzlich auslöschen, ist völlig falsch. Dass der Gesandte Allahs, Friede sei mit ihm, neun Gemahlinnen hatte, zeigt ganz klar, dass diese Behauptung falsch ist. Sollte jemand all sein sexuelles Begehren verlieren, dann muss er eine Medizin nehmen, damit dieses Begehren zurückkehrt. Ebenso verhält es sich mit dem Zorn. Ein Mann schützt seine Ehefrau und Kinder durch die Eigenschaft des Zorns. Er kämpft gegen die Feinde des Islam mit Hilfe dieser Eigenschaft. Mittels des Begehrens wird man zu Eltern und bekommt Kinder, wird nach seinem Tode mit Ruhm und Ehre erwähnt. Dies sind Sachen, die im Islam gelobt und geliebt werden.

Im Islam wird nicht die Auslöschung des Zorns und des Begehrens angeordnet, sondern die Beherrschung beider und ihr Einsatz gemäß dem Islam. Dies ist so, wie wenn ein Reiter sein Pferd oder ein Jäger seinen Hund eben nicht tötet, sondern erzieht und von ihm Nutzen zieht. Das heißt, das Begehren und der Zorn ähneln dem Hund des Jägers oder dem Pferd des Reiters. Ohne diese beiden kann man die Segen im Jenseits nicht ‚jagen‘. Doch um aus diesen beiden Eigenschaften Nutzen zu ziehen, muss man sie erziehen und sie dem Islam entsprechend einsetzen. Wenn sie nicht erzogen werden und ungebändigt bleiben, wenn sie die Grenzen des Islam überschreiten, dann zerren sie den Menschen ins Verderben. Wirkliche Riyâda (Abstinenz) wird nicht durchgeführt, um diese beiden Eigenschaften auszulöschen, sondern um sie zu erziehen und dafür zu sorgen, dass sie in den Grenzen des Islam bleiben. Dies zu erreichen ist für jeden möglich. [Zivilisiert sein besteht nicht darin, Atomkraft zu nutzen oder Düsenjäger usw. zu bauen. Wirklich zivilisiert sein besteht darin, diese Sachen im Dienste der Menschen einzusetzen. Dies geschieht allein dadurch, indem dem Islam gefolgt wird.]

Was die vierte Gruppe der Verwirrten betrifft, so betrügen diese sich selbst. Sie sagen: ‚Alles ist in der Vor-Zeit bestimmt worden. Noch bevor ein Kind geboren wird, steht fest, ob es einer der glücklichen Gehorsamen oder einer der unglücklichen Ungehorsamen sein wird. Dies wird sich nachträglich nicht ändern. Daher nützt es auch nichts Anbetungen zu verrichten.‘ Als der Gesandte Allahs, Friede sei mit ihm, verkündete, dass sich die Bestimmung und das Geschick nicht ändern werden, dass alles vorherbestimmt sei, fragten die Gefährten ihn daraufhin: ‚Sollen wir uns dann auf die Bestimmung verlassen und keine Anbetung verrichten?‘ Der Gesandte Allahs, Friede sei mit ihm, sagte: ‚Doch, verrichtet die Anbetungen, denn jedem wird das, was für ihn bestimmt wurde, leicht gemacht.‘ Das heißt, dass derjenige, von dem Allah, der Erhabene, in der Vor-Zeit schon wusste, dass er einer der Gehorsamen sein würde und in der diesseitigen Welt die Taten der Gehorsamen verrichten würde. Hieraus wird verständlich, dass die Verrichtung der Anbetung durch jene, die als Gehorsame bestimmt wurden, und die Auflehnung derjenigen, die als Ungehorsame bestimmt wurden, der Einnahme von Nahrung und Medizin durch die, für die Gesundheit bestimmt wurde, und der Nichteinnahme von Nahrung und Medizin durch die, für die Krankheit oder Tod bestimmt wurde, gleicht. Wem es bestimmt wurde zu verhungern, dem ist es nicht gefügt, Nahrung oder Medizin einzunehmen. Wem es bestimmt wurde, reich zu sein, dem werden die Wege zu Gewinn gefügt. Wem es bestimmt wurde, im Osten zu sterben, dem werden die Wege in den Westen verschlossen. Wir hörten, dass einst Azrâîl, Friede sei mit ihm, in der Gesellschaft von Sulaymân, Friede sei mit ihm, war und einen dort ebenfalls anwesenden Mann genauer beobachtete. Der Mann war – durch die strengen Blicke des Engels auf ihn – verängstigt.

Als Azrâîl, Friede sei mit ihm, wieder die Gesellschaft verließ, bat der Mann Sulaymân, Friede sei mit ihm, dass er dem Wind befehlen möge, ihn in eines der Länder des Westens zu tragen, wo er dann vor Azrâîl, Friede sei mit ihm, sicher sein möge. (Denn der Mann dachte, dass Azrâîl ihn deshalb so streng ansah, weil er ihm das Leben nehmen wollte.) Als Azrâîl, Friede sei mit ihm, wieder zu Sulaymân, Friede sei mit ihm, kam, fragte er ihn, warum er den Mann so streng angesehen hatte. Azrâîl, Friede sei mit ihm, antwortete: ‚Ich war beauftragt worden, das Leben jenes Mannes in einer der Städte des Westens zu nehmen. Als ich ihn in deiner Gesellschaft (also im Osten) sah, schaute ich ihn erstaunt an. Doch als ich mich dann meiner Anweisung entsprechend in den Westen begab, fand ich ihn dort vor und nahm sodann sein Leben, wie aufgetragen.‘ [Diese Geschichte wird im ‚Masnawî‘ des Dschelâluddîn Rûmî [1] , möge Allah mit ihm barmherzig sein, ausführlich erzählt.] Man sieht also, dass die Bestimmung in der Vor-Zeit nicht eine befehlende Anordnung, sondern ein fügendes Vor-Wissen ist. Damit sich die Bestimmung in der Vor-Zeit entfaltet, bekam dieser Mann Angst vor Azrâîl, Friede sei mit ihm. Sulaymân, Friede sei mit ihm, erfüllte ihm anschließend seinen Wunsch. Die Bestimmung in der Vor-Zeit entfaltete sich derart durch eine Aufeinanderfolge von Gründen. Auf solche Weise fügt sich auch, dass der, der als Gehorsamer bestimmt wurde, den Glauben annimmt und durch Riyâda (Abstinenz) seine schlechten Gewohnheiten richtet. In der 125. Âya der Sûre al-An‘âm, ‚Das Vieh‘, heißt es sinngemäß: ‚Wenn Allah, der Erhabene, einen Diener rechtleiten will, dann legt Er den Islam in sein Herz.‘ Der, der in der Vor-Zeit als einer der Ungehorsamen gewusst war, d. h. Dem bestimmt wurde, in die Hölle zu gehen, sagt: ‚Es ist nicht nötig, die Anbetung zu verrichten, denn es wurde in der Vor-Zeit bestimmt, wer ein Gehorsamer und ein Ungehorsamer sein wird.‘ Aufgrund solchen Denkens verrichtet er die Anbetungen nicht.

Eben dieses Denken und seine Unterlassung der Anbetung zeigen, dass er als ein Ungehorsamer bestimmt wurde. Ebenso sagt der, der als Unwissender bestimmt wurde: ‚Alles wurde in der Vor-Zeit bestimmt. Wer als Unwissender bestimmt wurde, dem nützen das Studieren und das Lernen nichts.‘ So unterlässt er das Studieren und das Lernen und bleibt ein Unwissender. Wenn jemandem bestimmt wurde, dass er durch Landwirtschaft reichlich Ernte einfährt, dann fügt es sich, dass er seinen Acker pflügt und Samen aussät. So verhält es sich auch damit, dass jene, die als Gehorsame bestimmt wurden, den Glauben annehmen und die Anbetung verrichten und dass die Ungehorsamen ungläubig werden und sich auflehnen. Doch die Narren verstehen dies nicht. Sie sagen: ‚Wie hängt das Verrichten der Anbetung damit zusammen, dass jemand als Gehorsamer bestimmt wurde, und wie hängen der Unglaube und der Ungehorsam damit zusammen, dass jemand in der Vor-Zeit als Ungehorsamer bestimmt wurde?‘ Sie versuchen mit ihrem beschränkten Verstand diesen Zusammenhang zu verstehen. Sie versuchen alles (was diese Fragen der Bestimmung betrifft) mit ihrem eigenen Verstand zu lösen. Doch der Verstand des Menschen hat seine Grenzen. Sachen, die den Verstand übersteigen, mit dem Verstand begreifen zu wollen, ist unvernünftig und eine Torheit. Wer auf solche Weise denkt, ist ein Narr. Îsâ, Friede sei mit ihm, sagte: ‚Es fiel mir nicht schwer, von Geburt an Blinde zu heilen, ja sogar Tote zu erwecken, doch es war mir nicht möglich, dem Dummen ein wahres Wort zu erläutern. Aufgrund Seines unendlichen Wissens und Seiner unendlichen Weisheit erhebt Allah, der Erhabene, manchen Seiner Diener auf die Stufe der Engel hinaus, ja, sogar über die Stufe der Engel. Manchen anderen erniedrigt Er unter die Stufe von Tieren.“ Hier endet die Übersetzung des 18. Briefs (des Scharafuddîn Ahmed ibn Yahyâ Munîrî).

Sein Buch „Maktûbât“, „Briefe“ enthält 100 Briefe. Es wurde im Jahre 741 n. H. [1339 n. Chr.] verfasst und im Jahre 1329 n. H. [1911 n. Chr.] in Indien gedruckt. Eine handschriftliche Kopie ist in der Süleymaniye-Bibliothek in Istanbul vorhanden.

[1] Dschelâluddîn Rûmî starb 672 n. H. [1273 n. Chr.] in Konya.